Herzlich willkommen in der Heinrich-Böll-Stiftung. Wir freuen uns sehr, 50 Jahre türkische Einwanderung gemeinsam mit Ihnen zu bedenken und zu feiern.
Die Geschichte der Arbeitsmigration nach Deutschland ist viel älter als die Bundesrepublik. So ist die Schwerindustrie des Ruhrgebiets untrennbar mit Zuwanderern aus dem heutigen Polen verbunden. Während des 2. Weltkriegs wurden Millionen von Fremd- und Zwangsarbeiter in der Industrie und Landwirtschaft des „3. Reichs“ eingesetzt. Es war also kein neuer Gedanke, ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen, um den wachsenden Bedarf der Wirtschaft zu decken. Mitte der fünfziger Jahre waren die Trümmer des Zweiten Weltkriegs weggeräumt, die Bundesrepublik übte Demokratie, die Wirtschaft boomte. Angesichts des stürmischen Aufschwungs befürchtete die Industrie eine Verknappung von Arbeitskräften, die die Löhne nach oben treiben und das Wachstum bremsen könnte.
So kamen 1955 die ersten „Gastarbeiter“ aus Italien. Es folgten Spanier, Griechen, Portugiesen, Jugoslawen. Der Mauerbau 1961 und das Abreißen des Flüchtlingsstroms aus dem Osten führten zu weiteren Engpässen auf dem Arbeitsmarkt. Am 31. Oktober 1961 markierte das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei den Beginn der türkischen Einwanderung nach Deutschland. Sie lag damals im Interesse beider Staaten. Die Bundesrepublik sicherte den Nachschub an relativ billiger und williger Arbeitskraft; die Türkei, damals noch ein armes und industriell wenig entwickeltes Land, exportierte einen Teil ihrer überschüssigen Landbevölkerung. Zugleich trugen die Rücküberweisungen der türkischen Arbeiter maßgeblich zum Lebensunterhalt von Millionen Menschen bei.
Auf deutscher Seite war es interessanter Weise das Außenministerium, das sich sehr für den Abschluss des Anwerbeabkommens ins Zeug legte, weil es darin einen Beitrag zur Stabilisierung der Türkei als NATO-Partner sah.
Das Abkommen hatte Folgen, die sich vermutlich niemand vorstellen konnte, der es damals ausgehandelt hat. Es löste eine mittlere Völkerwanderung aus. Millionen Menschen – eben nicht nur Arbeitskräfte – sind so nach Deutschland gekommen. Viele sind aus diversen Gründen wieder zurückgekehrt, viele wurden in der Folge hier geboren, viele sind hier alt geworden und gestorben. Die Arbeitsmigranten haben die soziale, kulturelle und politische Realität Deutschlands nachhaltig verändert – viel mehr, als das den damaligen Verantwortlichen bewusst war. Aus „Gastarbeitern“ wurden Einwohner, aus Fremden Nachbarn, aus Ausländern vielfach deutsche Staatsbürger.
50 Jahre danach hat sich Deutschland zu einer Einwanderungsrepublik gewandelt. Menschen türkischer Herkunft sind heute fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft. Sie haben das Alltagsleben in vielen Bereichen verändert, und sie spielen eine wachsende Rolle im öffentlichen Leben - als Autorinnen, Schauspieler, Musiker, Unternehmer und Politiker. Wer Wahlen gewinnen will, kann sie nicht mehr ignorieren.
Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass die Immigranten wie die bundesdeutsche Gesellschaft die Einwanderung besser bewältigt haben als man befürchten musste. Denn die Voraussetzungen waren nicht gut. Ein Großteil der Zugewanderten war für die Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft schlecht gerüstet: ihr Bildungsniveau war gering, kulturell war die Ankunft in einer westeuropäischen Großstadt für viele ein Schock. Umgekehrt war die Bundesrepublik weder mental noch politisch auf die Integration von Millionen Zuwanderer eingestellt.
Beide Seiten lebten in der Illusion, die vermeintlichen „Gastarbeiter“ würden eines Tages zurückkehren. In Wirklichkeit folgten den Arbeitern ihre Familien, andere kamen zum Studium, andere weil sie in der Türkei Verfolgung befürchten mussten. Heute leben hier rund 2,5 Millionen türkeistämmige Menschen in der vierten Generation.
Trotz aller Probleme und Abgrenzungen, trotz aller Alarmrufe über „Parallelgesellschaften“, türkische Halbstarke und islamistische Milieus ist die türkische Einwanderung unter dem Strich eine Erfolgsgeschichte. Der multikulturelle Alltag ist vielerorts zur Normalität geworden, mal miteinander, mal nebeneinander, selten gegeneinander. Ein zentraler Integrationsfaktor waren und sind die Betriebe, in denen Einheimische und Zuwanderer Seite an Seite arbeiten. Das stiftet nicht unbedingt Freundschaften, aber doch eine kollegiale Atmosphäre. In den Autofabriken, Stahlhütten, Bergwerken und Werften gab es türkische Lehrlinge, gewerkschaftliche Vertrauensleute und Betriebsräte. Man traf sich auch nach der Arbeit im Sportverein oder im Kleingarten. Diese Arbeitsplätze sind in den letzten 20 Jahren zu Hunderttausenden wegrationalisiert worden. Einem Teil der türkischstämmigen Migranten wurde damit die ökonomische Basis entzogen. Für den Übergang in die Wissensgesellschaft waren sie schlecht gerüstet, und in ihre berufliche Weiterbildung wurde viel zu wenig investiert. Auch deshalb ist die hohe Erwerbslosigkeit unter Migranten das größte Hindernis für ihre soziale Einbürgerung.
Auf der anderen Seite des Spektrums haben zahlreiche Migrantinnen und Migranten die Chancen, die Deutschland ihnen bot, beim Schopfe gepackt und in das soziale, kulturelle, ökonomische und politische Leben hineingefunden. Viele haben den sozialen Aufstieg geschafft, etliche haben es zu Prominenz und Reichtum gebracht. Mesut Özil, Shermin Langhoff, Fatih Akin, Cem Özdemir, Vural Öger oder Feridun Zaimoglu verkörpern Erfolgsstories, die das heutige Bild der Bundesrepublik weit über die Grenzen hinweg prägen.
Allerdings ist dies nur die eine Seite der Geschichte. Für die Mehrheit der türkischen Migrantinnen und Migranten ist der Traum vom sozialen Aufstieg noch ein fernes Ziel. Ein beträchtlicher Teil der Jugendlichen ist im Vergleich zu ihren deutschstämmigen Altersgenossen in Schulen, in der beruflichen Bildung und auf dem Arbeitsmarkt wenig erfolgreich. Unser Schulsystem hat lange gebraucht, um sich auf die spezifische Situation und auf die Lernbedingungen von Migrantenkindern einzustellen, und man kann auch heute nicht sagen, dass wir damit weit vorangekommen wären. Ein Anteil von mehr als einem Drittel türkischstämmiger Jugendlicher ohne qualifizierte Ausbildung ist eine schwere Hypothek für die Zukunft – für sie selbst, aber auch für die Gesellschaft. Darin steckt jede Menge sozialer und politischer Sprengstoff.
Auch hat die erste Generation den Traum von der Rückkehr nie richtig aufgegeben, nur immer weiter aufgeschoben. Ein Drittel der damals Eingewanderten sind wieder zurück in die Türkei. Mittlerweile folgen ihnen auch ihre Urenkel - die Hochqualifizierten. Allein 2009 verließen 40.000 gut ausgebildete Immigranten Deutschland in Richtung Türkei.
Sie kehren nicht zurück, sondern sie wandern aus – in ein Land, das sie nur von Verwandtenbesuchen kennen, von dem sie sich aber offenbar mehr Erfolgschancen und weniger Ablehnung erwarten. Sie kehren uns den Rücken, weil sie den Krampf leid sind, ständig beweisen zu müssen, dass sie dazugehören. Andere reklamieren selbstbewusst und offensiv, dass sie Teil dieses Landes und dieser Gesellschaft sind, sozusagen Deutsche neuen Typs.
Ein halbes Jahrhundert nach Inkrafttreten des Anwerbeabkommens wollen wir heute Bilanz ziehen und den Blick nach vorn richten. Es geht auch um Geschichten des Ankommens, um Erfolge und Schwierigkeiten bei der Annäherung an ein fremdes Land.
Dazu gehören einige Besonderheiten der türkischen Immigration nach Deutschland, die genauer verstanden werden müssen. So sucht eine wachsende Zahl junger Migranten Halt im Islam, während sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft weiter säkularisiert. Woher kommt es, dass die zweite und dritte Generation sich stärker religiös definiert als ihre Eltern? Und welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf ihre Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft?
Eine weitere Besonderheit ist die starke Präsenz national-türkischer Medien, Verbände und Organisationen hierzulande. In vielen Fällen verstehen sie sich als Agenturen des Türkentums. Das ist in dieser Intensität bei keiner anderen Einwanderungsgruppe der Fall. Welche Folgen hat das für das Selbstverständnis türkischer Immigranten in Deutschland?
Dass „Assimilation ein Verbrechen“ sei, hat der türkische Ministerpräsident ihnen mit dem Holzhammer eingebläut. Wenn damit die erzwungene Preisgabe von kultureller Tradition, Sprache und Religion gemeint ist, rennt er offene Scheunentore ein. Aber wie verhält es sich mit der freiwilligen Aneignung des Lebensstils, der Normen und Werte der deutschen Gesellschaft durch die Einwanderer? Gilt der Grundsatz „einmal Türke, immer Türke“ oder geht es nicht gerade darum, die Einbürgerung von Migrant/inn/en auf allen Ebenen von Politik, Arbeitswelt und Kultur zu befördern, ohne dass sie ihre Herkunft leugnen müssen?
Genug Stoff also für eine interessante, lebhafte und einander zugewandte Konferenz. Sie wird ergänzt von einer Filmreihe, die in regelmäßigen Abständen hier in der Heinrich-Böll-Stiftung gezeigt wird.
Außerdem zeigen wir auf unserer Beletage die Fotoausstellung „beyond", die von der Photographin Loredana Nemes produziert wurde. Unterwegs im nächtlichen Berlin hat sie sich den Männerwelten in türkischen und arabischen Lokalen in Kreuzberg, Neukölln und Wedding genähert, zu denen eine Frau sonst wenig Zugang hat. In klar komponierten Aufnahmen entstehen Porträts der Cafébesucher, schemenhaft und zugleich ausdrucksstark. Die Ausstellung kann bis zum 9. November besucht werden.